Moderne | 1890 - 1920 | Literaturepoche
Die literarische Epoche der Moderne setzt in Deutschland um das Jahr 1890 ein und wird um etwa 1920 von der Literatur der Weimarer Republik abgelöst. Die Vertreter der Moderne verfolgten mit ihrer schriftstellerischen Arbeit keine festen Ziele, wie dies die Autoren vorangegangener Epochen getan hatten, sondern verwarfen die objektive Erzählweise des Naturalismus und entwickelten eine Vielzahl neuer Stilrichtungen und sprachlicher Mittel, um die gesellschaftlichen Tendenzen um die Jahrhundertwende literarisch zu verarbeiten und den Menschen und sein individuelles Seelenleben wieder in den Mittelpunkt zu rücken.Historischer Kontext der Moderne
Im frühen 20. Jahrhundert erschütterten zahlreiche wissenschaftliche Errungenschaften die traditionellen Weltanschauungen der Menschen und läuteten damit eine neue geistige Ära ein, die auch von den Künstlern und Literaten aufgegriffen und verarbeitet wurde. Auf dem Gebiet der Physik sorgten Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie und Max Planck mit der Quantentheorie für ein allgemeines Gefühl des Verlusts traditioneller Werte, und Sigmund Freud setzte sich in Wien mit dem Unterbewusstsein und den sexuellen menschlichen Trieben seiner Patienten auseinander und rüttelte mit seinen veröffentlichten Erkenntnissen an der glatten Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft. Dies verursachte einerseits eine Krise des Denkens, eröffnete jedoch andererseits völlig neue Perspektiven einer individuellen Wirklichkeitswahrnehmung. Dadurch kamen auch die Literaten von der nüchternen und realistischen Erzählweise des Naturalismus ab und suchten nach innovativen Stilmitteln, um die veränderten und subjektiven Sichtweisen und Empfindungen ins Zentrum ihrer Darstellung zu heben.
Stilelemente der literarischen Moderne
Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert machten sich unter den Menschen ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit und eine zunehmend apokalyptische Endzeitstimmung breit. Bürgerliche Konventionen wurden zunehmend als einengend empfunden, und die stetig wachsende Bevölkerung in den Städten Europas wurde immer mehr zu einem sozialen Problem von ungeheurem Ausmaß, das die Naturalisten zwar dargestellt hatten, aber nicht ändern konnten. Durch das Scheitern dieser nüchternen Literaturströmung rückte das Subjektive, Zufällige, Unterbewusste und Heterogene der Menschen wieder in den thematischen Vordergrund, und die Literaten suchten nach passenden ästhetischen Stilmitteln, um die negative Stimmung aufzugreifen und künstlerisch wiederzugeben. Dies führte zu einer wahren Explosion von Experimenten mit neuen Konzeptionen und Erzähltechniken, die eine ganze Reihe von unterschiedlichen Strömungen innerhalb dieser Epoche nach sich zogen.
Ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert bildete sich in Europa ein Stilpluralismus heraus, der verschiedenste neue literarische Tendenzen wie den Impressionismus, die Neuromantik, den Symbolismus, Jugendstil sowie Fin de Siècle, Dekadenz, Expressionismus und Dadaismus mit sich brachte. Aufgrund der großen Vielfalt an Stilrichtungen und der Schwierigkeit, sie untereinander scharf abzugrenzen, wurden diese später unter dem vagen Begriff „Moderne“ zusammengefasst. Viele Autoren dieser Zeit lassen sich darüber hinaus mehreren Strömungen innerhalb dieser Epoche zuordnen, was die Definition der Stilrichtungen zusätzlich erschwert. Eine wesentliche Rolle in der Entwicklung neuer literarischer Konzepte spielte die intensive Diskussion über das, was die Schriftsteller eine „Krise der Sprache“ nannten. Gemeinsam ist den Werken der Moderne eine sprachgewaltige Erzählweise voller Symbole, Metaphern, Bilder, Assonanzen und Alliterationen sowie eine klare Abgrenzung vom nüchternen Naturalismus. Die Literatur war nicht wie in vorangegangenen Epochen Mittel zum politischen Ausdruck, sondern entstand ihrer selbst wegen und konzentrierte sich auf die Darstellung des menschlichen „Ichs“, seine subjektiven und individuellen Empfindungen und die Abbildung unterbewusster Seelenlandschaften.
Die Werke der Moderne sind inhaltlich von einer Relativierung der menschlichen Erkenntnisse und Wahrnehmungen gekennzeichnet. Die Literatur des Impressionismus als erste Stilrichtung der Moderne entwickelte sich aus der bildenden Kunst und sollte subjektiv empfundene Eindrücke wiedergeben. Die impressionistische Literatur stellte die Lebenshaltung der Menschen und den Verlust ihrer Bindungsfähigkeit in den thematischen Mittelpunkt. Auch die Werke, die der Strömung des Jugendstil zugeordnet werden, waren stark von den Einflüssen der bildenden Kunst geprägt. Der literarische Jugendstil griff hauptsächlich Elemente aus der Mythologie und der mittelalterlichen Sagenwelt auf, die mit teilweise skandalösen Inhalten und schwärmerischer Sprache in zahlreichen Gedichten verarbeitet wurden. Die Literatur um die Jahrhundertwende transportierte mit den Werken des Fin de Siècle eine düstere Endzeitstimmung und brachte eine Vielzahl von Werken hervor, die heute unter dem Begriff Dekadenz zusammengefasst werden und sich auf radikalisierte Weise mit dem Verlust des Ichs, dem Verfall der Kultur und dem verzweifelten Suchen nach einer künstlichen, die Natur verdrängenden Welt der Mystik auseinandersetzten. Während des Ersten Weltkriegs mündete die Dekadenz schließlich in die Strömungen des Expressionismus und Dadaismus. Auch in der Neuromantik wurden diese Themen von Mystik, Religion, Träumen und historischen Stoffen aufgegriffen und fanden in Form von Erzählungen und Kunstmärchen ihre Darstellung. Die europaweite Strömung des Symbolismus wird ebenfalls der Epoche der Moderne zugeordnet. Die Lyriker des Symbolismus schufen Gedichte von starker Abstraktion, Musikalität und Sprachmagie und stellten sich mit der Wiedergabe von Handlungen durch Symbole und Metaphern auf radikale Weise gegen jegliche wirklichkeitsgetreue Darstellung.
Werke und Vertreter der Moderne
Der österreichische Schriftsteller Hermann Bahr veröffentlichte im Jahr 1891 seine Schrift „Überwindung des Naturalismus“ und legte damit den Grundstein für ein wahres Feuerwerk an neuen Stilrichtungen, die die nächsten Jahrzehnte auf unterschiedliche Weise dominierten und beeinflussten. In Wien stand Hermann Bahr in engem Kontakt mit Hugo von Hofmannsthal, der die Literatur des Fin de Siècle mit seinen Dramen wie „Der Tod des Tizian“, „Der Tor und der Tod“ oder „Jedermann“ sowie seinen Prosawerken „Brief des Lord Chandos an Francis Bacon“, „Die Frau ohne Schatten“ und „Das fremde Mädchen“ nachhaltig prägte. Gerhart Hauptmann ging zwar als der bedeutendste Vertreter des deutschen Naturalismus in die Literaturgeschichte ein, wandte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedoch allmählich auch anderen Strömungen zu und schuf mit dem in Versen verfassten Märchenstück „Die versunkene Glocke“, dem Versdrama „Der arme Heinrich“, der „Winterballade“ und „Hamlet in Wittenberg“ auch eine Vielzahl von mythischen Fantasiewelten im Stil der Neuromantik. Der Lyriker Stefan George versammelte ab der Jahrhundertwende einen ausgewählten Kreis von Dichtern um sich und war stark vom Symbolismus und der Philosophie Nietzsches beeinflusst. Zu seinen bedeutendsten Arbeiten zählen die Gedichtbände „Das Jahr der Seele“, „Der Stern des Bundes“ und „Der siebente Ring“.
Der literarische Impressionismus fand vor allem in den Theaterstücken und Erzählungen des österreichischen Dramatikers Arthur Schnitzler seine Darstellung. Als wichtigster Vertreter der Wiener Moderne schuf Schnitzler mit „Reigen“, „Liebelei“ oder „Leutnant Gustl“ Abbilder der Gesellschaft aller Schichten und deckte die Tabus, Lebenslügen und die sexuellen Eskapaden der Bürger auf stark psychologisierende Weise auf. Neben Schnitzler lassen sich auch Marcel Proust, Peter Altenberg, der junge Rainer Maria Rilke und Peter Hille der Strömung des Impressionismus zuordnen. Die lyrischen Arbeiten Rilkes, wie etwa die Gedichtbände „Mir zur Feier“, die „Neuen Gedichte“, „Traumgekrönt“ oder „Wegwarten“ befassen sich fast ausschließlich mit dem Innenleben der Menschen und der Ablehnung des christlichen Jenseitsglaubens.
Frank Wedekinds im Jahr 1891 veröffentlichtes Drama „Frühlingserwachen“ attackierte wie Schnitzler Stücke die bürgerliche Sexualmoral und zeigte deren negative Auswirkungen auf die jüngeren Generationen. Das Stück wurde wegen seines „obszönen“ Inhalts jahrelang verboten und gelangte erst im Jahr 1906 zur Aufführung.
Zu den großen Erzählungen und Romanen der deutschen Moderne zählen Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, Stefan Zweigs Novellen „Brennendes Geheimnis“ und „Die Liebe der Erika Wald“, Thomas Manns Werke „Buddenbrooks“, „Der Tod in Venedig“, „Tristan“ und „Tonio Kröger“ sowie „Der Steppenwolf“ und „Peter Camenzind“ von Hermann Hesse.