Realismus | 1850 - 1890 | Literaturepoche
Der Realismus bezeichnet die der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschende Geisteshaltung, die sich in der Kunst, Philosophie und Literatur Europas, Russlands und den Vereinigten Staaten manifestierte. Der deutsche literarische Realismus setzt unmittelbar nach der Märzrevolution des Jahres 1848 ein und geht um etwa 1890 in den Naturalismus über. Die Literatur dieser Strömung wurde in Deutschland als „poetischer Realismus“ bezeichnet, der sich von den in der Darstellung schonungsloseren Werken der Russen, Franzosen und Briten deutlich abhob und sich zunächst nur langsam von der idealisierten Erzählweise der Romantiker und klassischen Schriftsteller Goethe und Schiller abwandte. Der Realismus als Literaturepoche ist von distanzierter Objektivität gekennzeichnet und wurde durch die zeitgenössische Philosophie, sowie den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen des Naturforschers Charles Darwin maßgeblich beeinflusst.Historischer Kontext des Realismus
Nach der Revolution des Jahres 1848 wurde Metternich abgesetzt und Otto von Bismarck zunächst zum preußischen Ministerpräsidenten und später zum neuen Reichskanzler ernannt. Unter seinem politischen Einfluss wurden zahlreiche Gesetze erlassen, um die wachsenden sozialen Gegensätze zu bekämpfen. Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Bürgertums und der Bildung einer Arbeiterklasse waren soziale Fragen und die Themen Kapitalismus, Industrialisierung und Imperialismus ins Zentrum der geistigen Auseinandersetzung gerückt.
In seinen philosophischen Schriften beschrieb Karl Marx die Religion als Werkzeug ökonomischer - und damit realer – Interessen. Das Sein dominierte über dem Bewusstsein, und die Entwicklung des Menschen wurde nach materialistischen Gesichtspunkten beurteilt. Die Evolutionstheorie des englischen Naturwissenschaftlers Charles Darwin trug wesentlich dazu bei, dass sich die Schriftsteller zugunsten einer wirklichkeitsgetreuen Auffassung der Lebensumstände von der Religiosität abwandten.
In Deutschland fand innerhalb dieser Literaturströmung eine eigenständige Entwicklung des sogenannten „poetischen Realismus“ statt. Dies liegt darin begründet, dass die Industrialisierung und der damit einhergehende schnelle technische Fortschritt in den deutschen Staaten im Gegensatz zu Großbritannien und Frankreich später einsetzte. Die deutschen Schriftsteller des Realismus blieben daher länger den ländlich-idyllischen Geschichten treu und entwickelten schließlich ihren eigenen Stil, der sich von den nüchternen Beschreibungen der unmenschlichen Verhältnisse des Briten Charles Dickens und der Sozialkritik Tolstois oder Dostojewskis stark unterschied.
Stilmittel und Themen des Realismus
Die Realisten stellten sich in erster Linie gegen die Romantiker, die mit ihrer weltfremden, mystischen und illusorischen Darstellungsweise die Wirklichkeit verleugneten. Die Schriftsteller der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentrierten sich auf die Thematisierung von objektiv beobachtbaren gesellschaftlichen Zuständen und beschrieben das konkrete Leben, das um sie herum ablief. Die wirklichen Probleme des menschlichen Alltags rückten in den Fokus der literarischen Aufmerksamkeit. Die handelnden Personen der Werke des Realismus stellten nicht mehr idealisierte Figuren und ihre Seelenlandschaften, sondern beliebige Individuen aus dem Bürgertum, des Arbeiterstandes und der ländlichen Bevölkerung dar, deren Erlebnisse in einen bestimmten zeitgenössischen oder historischen Kontext gestellt wurden. Die einfache erzählende Form wie der Roman und die in dieser Epoche ihren Höhepunkt erlebende Novelle wurde zur bevorzugten Literaturgattung der Schriftsteller. Werke der deutschen Realisten erreichten nun alle Menschen des Bürgertums, denn sie wurden in zahlreichen Zeitschriften wie „Die Gartenlaube“ oder der „Deutschen Rundschau“ bereits vor ihrer Veröffentlichung abgedruckt. Die poetischen Realisten im Deutschen Reich bemühten sich zwar um eine objektive Darstellung der nackten Tatsachen, doch bedienten sie sich im Gegensatz zu den Realisten anderer Länder dabei einer der lyrischen Ausdrucksweise ähnlichen Sprache, die das Erzählte mitunter ironisch oder humorvoll verklärte, überhöhte und ästhetisierte.
Den poetischen Realisten ging es um die kunstvolle Gestaltung eines wirklichen und fassbaren Geschehens, das durch die sprachliche Verschleierung an Tiefe und Wahrheit gewinnen sollte. Auf drastische Stilmittel verzichteten die Realisten zugunsten einer Einfachheit auf inhaltlicher und formaler Ebene. Da die Werke der poetischen Realisten hauptsächlich an das Bürgertum gerichtet waren, thematisierten sie vor allem die Mündigkeit der aufkommenden Bürgerschicht gegenüber dem Adel und zeigten die heile und moralisch solide Welt des wirtschaftlichen Wohlstands. Auch die Dorfgeschichte, die den ländlichen Alltag und dessen soziale Konflikte behandelte sowie der historische Roman, der eine Mischung aus Erzählung und Geschichtsschreibung darstellte, erlebten im poetischen Realismus eine Blütezeit.
Vertreter und Werke des deutschen Realismus
Die Erzählweise, die den wirtschaftlichen Wohlstand des Bürgertums idealisierte, ist vor allem in den Romanen Gottfried Kellers wie „Der grüne Heinrich“ oder „Martin Salander“ zu finden, wobei der Schriftsteller neben einigen Gedichtzyklen auch bedeutende Dorfgeschichten, darunter die Novellen „Kleider machen Leute“ und „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ verfasste. Auf dem Gebiet des historischen Romans sind unter anderem Josef Victor von Scheffels „Der Trompeter von Säckingen“ und Gustav Freitags „Die Ahnen“ erwähnenswert. Conrad Ferdinand Meyer rückte in seinen Historienromanen „Das Amulett“, „Die Versuchung des Pescara“ und „Der Heilige“ nicht die geschichtlichen Geschehnisse in den Vordergrund, sondern das Schicksal der Figuren und deren Verstrickung in die Machtspiele und politischen Wirren ihrer Zeit.
Theodor Fontanes Hauptwerke „Irrungen, Wirrungen“, „Effi Briest“ und „Frau Jenny Treibel“ werden heute als „Berliner Gesellschaftsromane“ bezeichnet und behandeln zwar ganz in der Tradition des poetischen Realismus das Leben von Figuren, jedoch innerhalb ihrer Lebensumstände und gesellschaftlichen Rolle eine Ausnahmeposition einnehmen. Fontanes Prosawerk ist von Konflikten zwischen Liebenden gekennzeichnet, die aus dem weiblichen Wunsch nach erotischer Selbstverwirklichung und dem gekränkten Stolz der männlichen Helden resultieren. Ist das frühe Prosawerk Theodor Storms wie die Novelle „Immensee“ noch von der Schilderung einer harmonischen bürgerlichen Welt gekennzeichnet, entwickelte der Schriftsteller im Laufe der Jahrzehnte eine zunehmend von Pessimismus geprägte düstere Stimmung, die sich in Romanen und Novellen wie „Der Schimmelreiter“ oder „Zur Chronik von Grieshuus“ in der Darstellung tragischer und scheiternder Helden niederschlägt. Wilhelm Raabes Romane „Die Akten des Vogelsangs“, „Der Hungerpastor“, „Die Chronik der Sperlingsgasse“ oder „Horacker“ sind fast durchwegs von innerlich zerrissenen Außenseitergestalten durchzogen, die an der Unvereinbarkeit des wirtschaftlichen und technischen Fortschritts und dem Bedürfnis nach Geborgenheit zugrunde gehen. Das Leben von Raabes unglücklichen Helden wird oft aus der Perspektive einer in der bürgerlichen Gesellschaft gut integrierten Figur erzählt.
Theodor Fontane, Gottfried Keller und Theodor Storm traten im Realismus auch als Lyriker in Erscheinung, ihre Gedichte gerieten jedoch angesichts des Erfolges ihrer Prosawerke in Vergessenheit. Eduard Mörike und Conrad Ferdinand Meyer schufen in der zweiten Jahrhunderthälfte sogenannte „Dinggedichte“, in denen die Wirklichkeit zwar auf sinnliche Art dargestellt wird, um dem Leser eine subjektive Deutung zu ermöglichen, jedoch gleichzeitig von einer distanzierten Betrachtung der Gegenstände und Figuren und einer Vernachlässigung aller unwesentlichen Details gekennzeichnet sind. Damit vermittelt das Dinggedicht den Eindruck, als spräche das Dargestellte auf objektive Weise über sich selbst.
Auch das Drama spielte im Realismus nur eine untergeordnete Rolle, denn die wirklichkeitsgetreuen Betrachtungen des alltäglichen Lebens des Bürgertums fanden erst im Naturalismus ab dem Jahr 1890 ihren Weg auf die Bühne. Lediglich Friedrich Hebbels bürgerliche Trauerspiele „Maria Magdalene“ und „Agnes Bernauer“ nehmen als Theaterstücke innerhalb des poetischen Realismus eine wichtige Stellung ein.